Was gibt es da nicht zu mögen? Drei kleine Länder, nette Leute, viel Platz, tausende Kilometer Küste mit fantastischen Stränden, haufenweise Naturparks, drei richtige Metropolen und dazu noch eine Menge wunderbarer kleinerer Städtchen mit reicher Geschichte. Das Ganze auch noch gut bezahlbar und nicht weit entfernt. Ein absoluter Urlaubsvolltreffer.
Schon mehr als drei Jahrzehnte sind vergangen, seit das Baltikum sich mit seiner singenden Revolution aus der Sowjetunion befreite. Estland, Lettland und Litauen sind selbstbewusste nordeuropäische Länder, alles in allem EU-Musterschüler und überzeugte Nato-Mitglieder: drei junge Ostseerepubliken, die dem alten Kontinent guttun – mit ihrem Mut zu innovativen Ideen, ihrer Aufbruchstimmung, ihren gelebten Traditionen. Ein Faible für brandneue Informationstechnologien verbindet die Balten ebenso wie die Verwurzelung im alten Brauchtum.
Balten, die eigentlich keine sind
Die Menschen hier mögen es nicht wirklich, als „Baltikum“ zusammengefasst zu werden. Natürlich macht es die ganze Welt trotzdem. Dennoch gut zu wissen: Die finnougrischen Esten sind streng genommen gar keine Balten. Esten fühlen sich mehr den Finnen verbunden. Das katholische Litauen hat durch Geschichte, Kultur und Religiosität dagegen eher Berührungspunkte mit Polen – beide Länder waren mehrere hundert Jahre als europäische Großmacht in einem Staat vereint. Lettland ist wiederum kulturell stark von den Jahrhunderten deutscher Dominanz geprägt. Und doch haben die drei natürlich auch vieles gemeinsam: Sie wurden einst der Sowjetunion einverleibt, Jahrzehnte später fanden sie dann im Kampf für die Unabhängigkeit zum wunderbarsten Akt des Widerstands zusammen: Am „Baltischen Weg“, einer Menschenkette von Vilnius bis Tallinn zum 50.Jahrestag des unheilvollen Hitler-Stalin-Pakts am 23.August 1989, nahm jeder Dritte Este, Lette und Litauer teil.
Wilde Schönheit in der Provinz
Es ist eben diese wechselvolle Vielfalt aus verschiedenen Kulturen und Landschaften sanfter Schönheit, die das Baltikum als Reiseziel so reizvoll macht. Einsame Seen und urwüchsige Wälder, Sommerwolken über Auwiesen, Wildrosen und „weiße“ Juninächte: Wenn du mit diesen Vorstellungen in die drei Ostseerepubliken reist, wirst du unzählige Paradiese entdecken. Allein die Küste wandelt schier endlos zwischen dem litauischen Nida und dem Lahemaa-Nationalpark im Norden Estlands immer wieder ihre Form: Sandstrände, soweit der Blick reicht, Dünenketten und zerklüftete Steilufer, schroff ins Meer abfallende Klintfelsen. In Estland säumt ein schärenartiger Archipel aus über 1500 Inseln und Inselchen die Küste. Und natürlich wäre da noch die Kurische Nehrung, jene legendäre litauische Halbinsel, von der schon Wilhelm von Humboldt schwärmte. Oder auch die lettische Westküste mit ihren rekordverdächtig langen, einsamen Sandstränden.
Sobald du die Küste verlässt, erlebst du ein Land der leisen Töne, nordisch herb, melancholisch, introvertiert. Über die Hälfte des baltischen Nordens ist von Wäldern bedeckt. Dazwischen breiten sich geheimnisvolle Hochmoore aus wie die Latgale-Ebene, die sich im Osten Lettlands zu einer endlos scheinenden stillen Seenplatte öffnet – Traumreviere für Outdoor-Fans.
Metropolen, die vor Leben bersten
Der Kontrast zu den Hauptstädten könnte größer nicht sein. Hier schlägt das Herz der jungen Republiken – politisch, wirtschaftlich, kulturell. Rīga, Tallinn und Vilnius haben sich herausgeputzt, der graue Sowjetmief ist einem lebendigen Mix aus eleganten Läden und Galerien, Restaurants und trendigen Cafés gewichen. An Sommerabenden herrscht in Clubs, Jazzkneipen und Straßencafés ein entspannt-urbanes Nachtleben. Und doch: drei Hauptstädte, drei Gesichter. Tallinn betört mit mittelalterlichem Charme. Das historische, meisterhaft restaurierte Vanalinn mit seinen Gassen, Wehrtürmen und Kirchen rings um den Domberg zählt zu den schönsten Altstädten Europas. Das Fischerviertel Kalamaja mit dem Hotspot Telliskivi ist charmante Spielwiese der Hipster-Szene. Lettlands Hauptstadt Rīga vereint spielend hanseatische Backsteingotik mit der schwelgerischen Pracht von über 800 Jugendstilhäusern. Die Altstadt dagegen ist nicht nur wunderschön, sondern vibriert geradezu vor Leben und Betriebsamkeit.
Und dann wäre da noch Vilnius: berauschend barock, katholisch, ein bisschen exzentrisch, geheimnisvoll. Litauens Hauptstadt wuchs als Schmelztiegel der Kulturen. In schattigen Hinterhöfen der verwinkelten Altstadt, zwischen alten Klöstern, Dutzenden Kirchen, Kaufmannshäusern und dem prächtigen Universitätskomplex lebt noch der Zauber der litauischen Vielvölkerstadt. Heute fühlen sich Künstler und Freigeister von der bohemistischen Stimmung angezogen.
Mittendrin in Europa
Kaum zu glauben: Irgendwo in der litauischen Provinz kreuzen sich die Achsen Gibraltar–Ural und Nordkap–Kreta – der Mittelpunkt Europas. Das „Ost“-Label will man ablegen. Die lähmende Abhängigkeit von russischen Märkten ist weitgehend überwunden: Drei Viertel ihres Außenhandels wickeln die Ostseerepubliken inzwischen mit der EU und Skandinavien ab,Tendenz steigend.
Die globale Krise nahm auf Wirtschaftswunder keine Rücksicht. Die gefeierten Stars unter den aufstrebenden Ökonomien stürzten 2008 in die Rezession. Es sah zwischendurch extrem dramatisch aus. Drei Jahre dauerte die Talfahrt, doch inzwischen ist das Baltikum wieder quicklebendig, die Wirtschaft der kleinen Länder hat sich erstaunlich schnell erholt und steuert mit jährlichen Wachstumsraten über dem EU-Schnitt wieder auf stabilem Kurs. Wie das ging? Ein beispiellos radikales Sparprogramm, zwischenzeitige Lohnkürzungen von bis zu 40 Prozent, harte Einschnitte bei Renten und Sozialleistungen und die geringste Staatsverschuldung in der EU halfen zum Beispiel Estland vergleichsweise schnell aus der Krise. Eine Mischung aus rigidem Sparkurs und attraktiven Anreizen für Gründer und ausländische Investoren funktionierte. Mitten in den Euro-Untergangsdebatten führten die Esten gefolgt von Letten und Litauern ihn als Währung ein. Und feierten das sogar noch.
Auf Glückssuche nach Westen
Auch das ist halt typisch Baltikum: Optimismus. Ärmel hochkrempeln statt zu jammern. „Die Lösung ist immer nur drei Anrufe entfernt“, sagt man in Tallinn. Natürlich hat der schicke neue Lack auch seine Kratzer. Vor allem die Rentner konnten auf den Wirtschaftswunderzug nicht mit aufspringen. Auch ist das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land sehr deutlich, selbst wenn dieEU-Fördergelder durchaus auch und gerade die ärmeren Regionen erreichen. Die Folge der EU-Mitgliedschaft war deshalb eben auch eine Massenauswanderung von Menschen in die anderen, reicheren Länder des Westens, die ihre Arbeitsmärkte öffneten. Von Aushilfskräften bis hin zu zahlreichen hochqualifizierten Angestellten, von der dauerhaften Emigration bis zum zeitlich befristeten Auslandsaufenthalt, versuchten Hunderttausende, die finanziellen Perspektiven ihrer Familie kräftig aufzupolieren.
Das schwere Erbe
Auch die Wunden der Sowjetzeit sind noch nicht vernarbt. Viele Menschen in den drei Ostseerepubliken nehmen die Politik Moskaus nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine als Bedrohung der eigenen Sicherheit wahr, und die baltischen Regierungen, traditionell amerikatreu, forderten erfolgreich die Stationierung von mehr Nato- und US-Militär in ihren Ländern. Die großen russischen Minderheiten in allen drei baltischen Staaten machen das Verhältnis zu Moskau auch nicht gerade zum Zuckerschlecken. Das Verhältnis zwischen den Balten und den russischen Bevölkerungsgruppen ist allerdings trotz aller Integrationsprobleme nicht das allerschlechteste. Auch unter den Russen im Baltikum, viele von ihnen besitzen litauische, lettische und estnische Pässe, prägt zunehmend eine Generation das Bild, die die Vorteile des Lebens in der EU zu schätzen weiß. Oft wirkt es allerdings eher wie ein friedliches Nebeneinander als ein Miteinander.
Die Balten sind patriotisch. Wen wundert’s? Ihre Geschichte war jahrhundertelang eine Geschichte fremder Herren: Deutsche, Dänen, Schweden, Russen – sie alle kamen und okkupierten, was ihnen gefiel in der strategisch günstig gelegenen Ostseeregion. Freie Nationalstaaten auszurufen gelang den Balten erstmals 1918, in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg. Zeugen der bewegten Vergangenheit findet man überall im Baltikum: Ordensburgen, alte Landsitze des deutschbaltischen Adels, Schlösser prächtig wie Zarenpaläste.
Mit offenen Armen
Touristische Mauerblümchen sind die Ostseerepubliken längst nicht mehr, immer mehr Reisende entdecken das Baltikum. Hits sind natürlich die Hauptstädte, aber auch die Kurische Nehrung, die feinen Badeorte Jūrmala und Palanga, die estnische Insel Saaremaa und der Gauja-Nationalpark. Doch auch im Hinterland gibt’s viel zu entdecken: das Kurbad Druskininkai, die tiefen Wälder des litauischen Südens, das seenreiche Lettgallen oder die estnische Nordküste sind echte Geheimtipps für alle, die neue Wege gehen wollen. Unterkünfte gibt’s im Baltikum problemlos, das Angebot reicht von Fünf-Sterne-Luxus über stilvoll restaurierte Landschlösser bis zu Hostels oder Campingplätzen. Wer Land und Leute kennenlernen möchte, nimmt alternativ ein Privatquartier. Hier wirst du es am schnellsten spüren: Der große Reichtum dieser wundervollen Länder sind seine Menschen, gastfreundlich und hilfsbereit.